Ich habe eine Freundin, die historische Romane übersetzt. Wir haben denselben Beruf in dem Sinne, in dem ein Pinguin und ein Flamingo beide Vögel sind.

Als Ausgangstext verwendet sie einen gedruckten Text. Auf Papier! Ich kann noch nicht mal ein vier Zeilen langes Gelegenheitsgedicht für meine Nachbarn übersetzen, ohne es im CAT-Tool zu öffnen:

Ich brauche neben jedem einzelnen englischen Satz das Feld für den entsprechenden deutschen Satz. Bei zwei Texten „am Stück“ hätte ich das Gefühl, ständig hin- und herzugucken wie eine Zuschauerin beim Tennis und jedes Mal wieder die richtige Stelle im Text zu suchen.

Außerdem brauche ich mindestens die Illusion, dass das integrierte intelligente „AutoVervollständigen“ jeden Moment den Rest des Wortes vorblenden könnte, das ich gerade schreiben will, damit ich mir nicht vorkomme wie eine Tippselmaschine. Ich kann schon verstehen, dass das bei historischen Romanen vielleicht nicht so wichtig ist – wahrscheinlich muss man da selten 30-mal am Tag dasselbe Wort schreiben, und schon gar nicht Wortungetüme wie „Datenschutz-Grundverordnung“ oder „digitale Transformation“. Aber trotzdem, wie hält meine Freundin das aus?

Natürlich bin ich von uns beiden der Pinguin. Als ich vor 20 Jahren in diesem Beruf anfing, war sehr klar, dass ich nicht fliegen konnte und es vor allem auch gar nicht wollte.

Wie bei den Standard-Bilderbuch-Pinguinen war mein wichtigstes Alleinstellungsmerkmal, dass ich keines hatte. Wir taten alles dafür, eine homogene Gruppe zu sein. In der Anfangszeit der IT-Übersetzungen wurden vor allem Benutzeroberflächen und Handbücher lokalisiert, immer von mehreren Übersetzern gleichzeitig, denn bei Software-Releases zählt jeder Tag, und jedes Release war riesig. Daher mussten alle Übersetzer sich an ellenlange Regelwerke halten, damit alle so gleich schrieben, dass man nicht erkennen konnte, dass es überhaupt mehr als einen IT-Übersetzer auf der Welt gab. Da das damals nicht viele konnten, waren wir trotz schnödem Schwarzweiß echte Paradiesvögel und entsprechend rar und geschätzt.

Natürlich tauchten auch unsere Namen nirgendwo auf, nicht einmal der Name der Übersetzungsfirma, während literarische Flamingo-Übersetzer in ihren Büchern namentlich genannt werden und auch ein Copyright an ihren Übersetzungen haben.

Eine Herde namenloser Pinguine, die leicht geduckt unter der Oberherrschaft von Terminologielisten und Stilvorgaben arbeiten, stellt man sich sehr unscheinbar vor. Dennoch haben wir gerade in den Anfangsjahren eine neue Alltagssprache geprägt. Manchmal stehe ich vor dem Leergutautomaten im Supermarkt und kichere, weil im Display steht „Vorgang aufgrund eines Fehlers abgebrochen“. Dieser Nachfolger des Amtsstubendeutsch ist der Beitrag der frühen Pinguine zur Welt.

Wir Pinguine haben in den letzten Jahren eine rasante Evolution hingelegt.

Die unscheinbare schwarzweiße Watscheltruppe gibt es immer noch, aber sie wird inzwischen aufgrund der weiteren Verbreitung grundlegenden IT-Wissens nicht mehr als seltene Gattung wahrgenommen und aufgrund von Automatisierung und Kommodifizierung auch nicht mehr so sehr wertgeschätzt, wie sie es immer noch verdient hätte.

Stattdessen gibt es durch den Aufstieg des Content-Marketings inzwischen alles von putzigen Schopfpinguinen bis zu superseltenen Galapagos-Pinguinen. Auch IT-Übersetzer können heute eine eigene Stimme kultivieren und sie gezielt von wörtlich bis kreativ modulieren. Sogar an die „Transcreation“ wagen wir uns inzwischen, die mehr den Inhalt als die Form überträgt.

Unter sich schrieben die ehemals streng schwarzweißen Frackträger schon immer gern bildkräftig und emotional. Im Verborgenen haben wir schrägen IT-Vögel erst im Usenet, dann im aufkommenden Internet diskutiert und gewitzelt und seit langer Zeit eine lebensnähere Branchensprache vorbereitet. Geradlinig und ohne ein Seetangblatt vor den Schnabel zu nehmen, zugleich humorvoll und oft flap-flap-flapsig.

Ein Flamingo wird aus mir nicht mehr. Aber manchmal nehme ich am eisglatten Abhang Anlauf und fliege, wie ein Skispringer, ganz schön weit.