Erlebnisse mit agiler Lokalisierung
In den letzten Jahren sind einige Direktkunden in meinem Leben aufgetaucht, die agile Softwareentwicklungsmethoden verwenden. Keiner von ihnen hat mir das bei der Kontaktaufnahme gesagt. Sie waren auf einmal da und überließen es mir, herauszufinden, was da passierte. Hier sind meine Beobachtungen:
1. Das Übersetzungsteam ist klein.
Vor Agile arbeiteten an einem Projekt (etwa einer neuen Version einer Datenbank- oder Office-Lösung) einige Dutzend Übersetzer und weitere Beteiligte einige Monate lang. Jetzt sind über einen unbegrenzten Zeitraum ein oder wenige Freiberufler pro Sprache vorgesehen. Auf Kundenseite gibt es einen oder wenige „Übersetzungskoordinatoren“ (unter verschiedenen Berufsbezeichnungen), die für alle Sprachen da sind.
Alle Mitglieder eines solchen Mini-Teams sind erfahren und vielseitig. Einige der herkömmlichen Rollen teilen sie sich, vor allem die technische Leitung und das Terminologiemanagement. Einige Kunden überlassen auch das Korrekturlesen und/oder das Testen der lokalisierten Texte dem Übersetzungsteam, andere erledigen dies intern. Der Koordinator übernimmt alle Verwaltungsaufgaben, die zuvor von Übersetzungsfirmen erledigt wurden. Viele Koordinatoren haben als Projektleiter in der Lokalisierungsbranche angefangen.
2. Alle sind eingeladen, ihre Gedanken mitzuteilen.
Der Vorwurf, jemand würde seine Kompetenzen überschreiten, liegt offenbar völlig fern. Als Übersetzerin bin ich begeistert, dass mein Wissen anerkannt wird und dass der Koordinator sich mit meinen Anmerkungen auseinandersetzt. Auch für den Kunden hat diese Herangehensweise ganz sicher Vorteile: Übersetzer sind die ersten, die neue Benutzeroberflächenelemente oder Texte sehen, und sie sind die gründlichsten Leser, die es gibt. Übersetzer bemerken jede kleine Unebenheit in Sprache und Inhalt.
3. Kontinuität ist erfolgskritisch.
Da regelmäßig kleine Mengen zu übersetzen sind – im Allgemeinen von ein paar Wörtern bis zu wenigen Tausend Wörtern – ist ein festes Team sehr wichtig. Permanente Teammitglieder lernen das Produkt detailliert kennen, während es entwickelt wird. Ein vorübergehendes Mitglied müsste sich erst mit dem gesamten Produkt befassen, um einen winzigen Teil davon zu übersetzen.
Außerdem ist es nicht möglich, das gesamte Produkt am Stück auf konsistente Terminologie (oder einheitlichen Stil) zu prüfen wie früher am Ende eines großen Projekts. Deshalb sind ein hervorragendes TM- und Terminologie-Management und ein Protokoll stilistischer Entscheidungen unverzichtbar. Der Koordinator verwendet selbst ein CAT-Tool, um dies zentral zu steuern, anders als herkömmliche Übersetzungskunden, die häufig einfach Dateien in dem Format schicken, in dem sie sie erstellen, und die Übersetzungsfirma den Rest erledigen lassen.
4. Die Rolle und die Persönlichkeit der Koordinator(en) sind sehr wichtig.
Sie müssen nicht alle Sprachen können, aber sie müssen das Produkt kennen und wissen, was die Übersetzer brauchen. In jeder Iteration macht der Koordinator die neuen Funktionen und ihren Kontext für die Übersetzer sichtbar, häufig über Screenshots, Erläuterungen oder Navigationsschritte. In den meisten Agile-Iterationen müssen mehrere kleine Texteinheiten übersetzt werden. Ohne Kontext wäre das fehleranfällig, vor allem für sehr kurze UI-Elemente („Substantiv oder Verb? Button, Überschrift oder Aufforderung an den Benutzer?“) oder inkonsistent („einer Aufzählung auf einer Webseite wird ein Punkt hinzugefügt, was steht in den anderen Punkten?“). Diese Kontextinformationen sind für alle Sprachen gleich. Indem sie vorab aufbereitet werden, wird Zeit gespart, und redundante Fragen von Übersetzern aus mehreren Sprachen werden vermieden. Wenn dennoch Fragen auftauchen, werden die Antworten den Übersetzern aller Sprachen per E-Mail oder über ein gemeinsames Online-Dokument mitgeteilt.
Miteinander müssen die Übersetzer im Allgemeinen nicht interagieren. Das Übersetzungsteam selbst ist also kein Scrum-Team o. ä. Über den Koordinator als Vertreter oder Fürsprecher ist es eher ein virtuelles Einzelmitglied eines agilen Entwicklungsteams. So können die Übersetzer Feedback an die Entwickler geben. Dabei geht es vor allem um Internationalisierungsfehler wie Satzbruchstücke, die in der Zielsprache aufgrund anderer Wortstellung nicht logisch zusammengefügt werden können, oder lokale Konzepte wie ACH-Überweisungen, die im Zielland durch etwas Passendes ersetzt werden müssen.
Im Idealfall hält der Koordinator auch den Kontakt mit anderen Teams im Unternehmen, die Texte erstellen, etwa den Marketing-Teams in den unterschiedlichen Ländern, um Terminologie und stilistische Entscheidungen zusammenzutragen und zu vereinheitlichen. Dies scheint in den meisten größeren Unternehmen noch nicht möglich zu sein, da die Abteilungen zu stark voneinander getrennt arbeiten („Silos“). Im besten Fall wären dieselben Sprachprofis an allen (übersetzten und in der jeweiligen Sprache geschriebenen) Texten des Unternehmens beteiligt, um ihm eine einheitliche Stimme zu geben – von Benutzeroberflächen und Hilfetexten bis hin zu Kundenkommunikation und Marketingmaterialien.
5. Die agile „Zerstückelung“ verursacht mehr Overhead als die alte Lokalisierung vollständiger Releases.
In herkömmlichen Workflows arbeitete sich das Übersetzungsteam systematisch durch die gesamte Software (oder Website usw.). Mit agiler Entwicklung muss der Koordinator jede neue oder aktualisierte Funktion für die Übersetzer visualisieren, und die Übersetzer müssen häufig einen ganzen Screenshot oder eine ausführliche Beschreibung einer Funktion lesen, um wenige Wörter zu übersetzen.
Auch auf andere Weisen gehen Größenvorteile verloren. Beispielsweise ist es wahrscheinlicher, dass ich ein Wort zwischen agilen Iterationen vergesse als während eines großen, kompakten Projekts; also schlage ich es insgesamt viel häufiger im TM oder Glossar nach. Außerdem verursachen mehrere kurze Aufgaben von unterschiedlichen Kunden am selben Tag psychologische „Prozesswechselkosten“.
Der Zusatzaufwand nimmt im Laufe der Kooperation durch die zunehmende Vertrautheit mit dem Produkt ab, kann jedoch nie ganz vermieden werden. Andererseits gehört die quälende Monotonie langer, wiederholungsreicher Texte der Vergangenheit an.
6. Der zusätzliche Overhead wird durch die Vorteile aufgewogen.
Einige dieser Vorteile sind unmittelbar wirtschaftlicher Art. Zwar muss die Stelle des Übersetzungskoordinators eingerichtet werden, und im Allgemeinen müssen hervorragende Übersetzer ausgewählt werden, die zudem mehr Zeit pro Wort vorsehen müssen – dafür fallen jedoch alle herkömmlichen „Mittelsmänner“ zwischen dem Unternehmen und seinen Freiberuflern weg.
Zeit, Geld und Informationen versickern nicht in einer Befehlskette. Eine mehrstufige Hierarchie war sinnvoll, solange riesige Texte an große Übersetzungsagenturen, an ihre Auftragnehmer und dann an Freiberufler verteilt wurden, aber mit agiler Entwicklung ist das nicht notwendig.
Durch den Wegfall von Zwischengliedern fällt auch die Anonymität weg, und ich bin fest davon überzeugt, dass das messbare Vorteile hat.
Zum einen fördert Anonymität Aggressionen. Wohl jeder Übersetzer kann ein Lied von unerfahrenen (End-)Kunden singen, die eine Übersetzung verschlimmbessern und dabei mit herablassenden Bemerkungen verzieren. Die Mitarbeiter des Kunden haben nicht das Gefühl, dass am anderen Ende ein Mensch sitzt – und schon gar nicht einer, den sie einfach fragen könnten, warum ein Satz so übersetzt ist und nicht anders.
Andererseits hat vor zwanzig Jahren ein amerikanischer Kunde die Lokalisierungsfirma, in der ich arbeitete, ausfgefordert, die „typisch deutschen bissigen Formulierungen von Fragen und Bugmeldungen aufzustecken“. Ich glaube nicht, dass ihm klar war, wie tief diese Bissigkeit sitzt. Ich weiß das, weil ich sie selbst nur ablege, indem ich den Umgangston der Übersetzungskoordinatoren spiegele.
Auch ohne Aggression ist Anonymität nicht gut für eine Beziehung. Vor einigen Jahren hatte ich eine funktionierende Feedbackschleife mit einem Kundenmitarbeiter über eine Agentur, aber die Kommunikation war trotzdem schwierig: Während ich seinen Namen aus Metadaten entnehmen konnte und damit sein Online-Profil fand, verbot mir die Geheimhaltungsvereinbarung der Agentur, ihm meinen Namen oder auch nur mein (grammatisches) Geschlecht mitzuteilen. Ich würde ihm immer noch gerne sagen, dass ich die Zusammenarbeit mit der Agentur aufgeben musste, weil sie die Bedingungen immer weiter verschlechterte. Bis heute weiß er nur, dass ich nach einem unserer kollegialen und leicht grotesken Arbeitszyklen auf einmal weg war.
Im direkten Kontakt mit einem Übersetzungskoordinator passiert so etwas einfach nicht.
Natürlich habe ich auch vor Agile angenehme und konstruktive Geschäftsbeziehungen erlebt, aber Agile-Interaktion und -Feedback haben eine ganz eigene Qualität. Ich habe eine Weile gebraucht, um mich für so viel Kommunikation zu öffnen, weil ich sie nicht erwartete. Ich wusste, dass es beim agilen Ansatz um Veränderungen der (Unternehmens-)Kultur geht, aber ich bin immer noch überrascht, wie persönlich diese Veränderungen sind.
7. Die Qualität der Zusammenarbeit ist einer meiner wichtigsten KPIs.
Natürlich sind KPIs von Übersetzern Wortpreise, die Anzahl der Wörter pro Tag oder (schwerer zu messen) der Schwierigkeitsgrad der Texte. Was mich dazu gebracht hat, aus der Informatik in die Übersetzung und aus der Festanstellung in die Freiberuflichkeit zu wechseln, war jedoch im Endeffekt, dass es sich für mich richtig anfühlte. Ich verkaufe weder Waren noch die Zeit anderer Menschen. Ich verkaufe meine eigene Zeit und damit – obwohl ich Sachtexte übersetze – ein Stück von mir. Dabei kann ich beobachten, wie Lebensqualität zu wirtschaftlichem Erfolg wird.